WERKWANDEL 01/2022 Arbeitswelt vor Ort Anschlussstück oben Vakuumschaltkammer Anschlussstück unten Stromband Antriebsstange Anschluss Verdrehschutz Metallfaltenbalg Edelstahldeckel Balgschirm Keramikisolatoren Kontakte Kontaktträger Edelstahldeckel Eingießpolteil (links) und dort verbaute Vakuumschaltkammer (rechts) im Querschnitt | Foto: ABB AG Prozessoptimierung in der Serienmontage bei ABB Montagelinie am Standort Ratingen für schnelle Ablaufveränderungen fit gemacht Die Serienmontage von Baugruppen steht unter hohem Flexibilisierungsdruck, was Durchsatz und Wandelbarkeit für neue oder angepasste Produkte sowie Baureihen angeht. Ein Projektteam begleitet derzeit im kontinuierlichen Verbesserungsprozess größere Veränderungen. Diese dauern häufig mehrere Jahre. Für schnelle Veränderungen im Ablauf fehlen bislang ein geeignetes Vorgehen sowie eine adäquate Dokumentation der vorgenommenen Maßnahmen. Dieser Aufsatz informiert über ein neu entwickeltes Vorgehensmodell; damit können kontinuierliche Verbesserungen in kurzen Durchlaufzyklen von wenigen Tagen oder Wochen am Arbeitsplatz in der Serienmontage umgesetzt und evaluiert werden. Polteilfertigung bei der ABB AG in Ratingen ABB ist ein in mehr als 100 Ländern global agierender schwedisch-schweizerischer Konzern der Energie- und Automatisierungstechnik. Die ABB AG am Standort in Ratingen entwickelt und produziert Mittelspannungs-Schaltanlagen und zugehörige Geräte. In den Fabriken und Verwaltungsgebäuden arbeiten etwa 1300 Beschäftigte. Es werden jährlich unter anderem etwa 500 000 Vakuumschaltkammern, 250 000 Polteile und 4 000 gasisolierte Schaltfelder für den Einsatz in der Mittelspannungsebene entwickelt und produziert. Im Jahr 2019 ging eine hybride Montagelinie für die Endmontage sogenannter Polteile in Betrieb. Polteile werden als Baugruppe von Leistungsschaltern im Mittelspannungsbereich eingesetzt. Das wichtigste Element der Baugruppe stellt die Vakuumschaltkammer dar, eine vergossene Baugruppe zur Stromübertragung und -trennung, siehe Abbildung oben. Durch den umgebenden Hohlkörper sind viele Stellen der Baugruppe bei der Montage nur eingeschränkt zugänglich; deshalb müssen aufwändige Hilfswerkzeuge eingesetzt werden. Die Endmontage der Polteile ist dadurch sehr anspruchsvoll und erfüllt die hohen Qualitätsansprüche der Kunden. Die Montagelinie wird als hybrid bezeichnet, weil manuelle Arbeitsstationen, an denen die Beschäftigten Bauteile montieren, mit automatisierten Arbeitsstationen, wie beispielsweise der elektrotechnischen Prüfung von Bauteilen, kombiniert werden. Die Linie ist in fünf Arbeitsstationen sowie acht 18
WERKWANDEL 01/2022 Arbeitswelt vor Ort Das Industrial- Engineer-Team muss Potenziale in der Organisation der Montagelinie erkennen und Lösungen erarbeiten. Foto: © industrieblick/stock.adobe.com Teilbereiche, an denen Werkstückträger manuell befördert werden, aufgeteilt. Eine Baugruppe durchläuft die Montagelinie jeweils linear. Die eingesetzten Werkstückträger werden automatisiert zurückgefördert. Die Andienung — das heißt die Bestückung der Montagelinie mit den erforderlichen Materialien, Einzelteilen und Hilfsstoffen wie beispielsweise Schmierfett — erfolgt über Rollenbahnen mit der Kanban-Methode nach dem First-In-First-Out-Prinzip durch Beschäftigte der Logistik. Es besteht keine feste Taktbindung. Die Autonomie der Beschäftigten ist aufgrund der großen Produktvielfalt und dem anspruchsvollen Qualifikationsniveau sehr hoch. Auch wenn die Inbetriebnahme der Montagelinie erst drei Jahre zurück liegt, haben sich seitdem die Anforderungen an die Endmontage stark verändert. Deutlich erhöhte Produkt- und Bauartenvielfalt, verringerte Losgrößen und angestiegenes Auftragsvolumen führten in Kombination mit einer hohen Autonomie der Beschäftigten von Anfang an zu kontinuierlichen Veränderungen im Arbeitsablauf. Eine Herausforderung für das Industrial-Engineer-Team: Das Team muss Potenziale in der Organisation der Montagelinie erkennen, Lösungen erarbeiten sowie quantitativ bewerten und umsetzen. Wenn das Wissen über den Ablauf nicht mehr dokumentiert wird, liegt es nur noch als Erfahrungswissen bei den Beschäftigten. Darüber hinaus wurde schnell deutlich, dass eine vernetzte Digitalisierung über die unterschiedlichen Ebenen der Automatisierungspyramide hinweg notwendig ist, um den Prozessablauf optimiert und nachhaltig zu gestalten. Ein Ansatz, um diese Herausforderungen zu meistern, ist ein Vorgehensmodell, das für zukünftige Optimierungen einen systemisch-formalisierten Ablauf vorgibt. Ein Vorgehensmodell fasst demzufolge die eingesetzten Methoden, Standards und Werkzeuge sowie die Prozesse und Phasen für einen standardisierten Projektablauf kompakt zusammen. Mit diesem sollen sich Prozessveränderungen an der Montagelinie erfassen, abbilden und bewerten lassen. Im Erfolgsfall kann es eine Blaupause auch für Montagelinien in anderen Werken der ABB AG sein. Dies ist ganz im Sinne einer Standardisierung im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP). Im Rahmen einer mehrmonatigen Masterarbeit wurde nun das Ziel verfolgt, dieses Vorgehensmodell zu konzipieren und am Beispiel der Polteil-Montage anzuwenden. Zunächst wurde die bestehende Ist- Situation analysiert. Auch wirtschaftliche Kriterien wurden berücksichtigt und erste Optimierungspotenziale abgeleitet, beispielsweise wie die Effizienz der Montagelinie erhöht werden kann. Gleichzeitig musste beachtet werden, dass die Montagelinie trotz aller Optimierungen und Effizienzerhöhungen weiterhin flexibel organisiert werden soll, um auf schnell wechselnde Produktvarianten oder Bedarfsschwankungen reagieren zu können. Auch die vernetzte Digitalisierung der Linie durfte nicht vernachlässigt werden. So müssen die Arbeitsplätze, Anlagen und Maschinen an dieser Montagelinie untereinander und mit anderen Systemen im Werk vernetzt werden und die Daten unter anderem aus der Maschinensteuerung (SPS), Prozesssteuerung (SCADA) und dem Produktionsleitsystem (MES) zusammengeführt werden. Anhand der ermittelten Zeitwerte (nach MTM) sowie der Analyse der Arbeitsteilung zwischen den Beschäftigten konnte ermittelt werden, dass die Zeitvorgaben an bestimmten Stationen der Montagelinie stark voneinander abweichen und die Beschäftigten nur bedingt einer starren Zuordnung zu einer Arbeitsstation folgen. 19
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