WERKWANDEL 03/2024 Wissenschaft direkt Warum gehen die Babyboomer so früh in den Ruhestand — und was bedeutet das für Betriebe? Betriebe, die ihre älteren Beschäftigten länger halten wollen, sollten Sprachlosigkeit überwinden und einen konstruk - tiven Diskurs über die letzte Arbeitsphase anstreben. Hans Martin Hasselhorn Nach wie vor entscheiden sich die meisten Babyboomer für einen frühen Erwerbsausstieg, meist deutlich vor der Regelaltersgrenze. Auch wenn die Erwerbsquote der Bevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahren in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren deutlich zugenommen hat, stagniert sie für die Altersjahrgänge, die sich einige Jahre vor der Regelaltersgrenze befinden. So liegt die Erwerbsquote 64-jähriger Männer seit 2013 recht stabil bei etwa 40 Prozent und die der 64-jährigen Frauen seit 2017 bei gut 30 Prozent (BiB 2022). Ich wollte mehr Zeit mit Familie oder Freunden verbringen. Ich wollte so früh wie möglich aufhören. Meine Arbeit war zu belastend. Ich hatte eine Altersgrenze erreicht. Mein Gesundheitszustand machte es erforderlich. Ich brauchte mehr Zeit für mich selbst. Ich hatte es finanziell nicht mehr nötig zu arbeiten. Die Doppelbelastung durch Haushalt und Beruf war zu hoch. Meine Arbeit hat mir keinen Spaß mehr gemacht. Mein Partner/meine Partnerin ist in den Ruhestand gegangen. Ich hatte kranke oder pflegebedürftige Personen zu betreuen. Ich hatte ein günstiges Ausstiegsangebot erhalten. Ich wollte mal etwas Anderes machen. Der Arbeitsweg war zu lang. Ich wurde bei der Arbeit nicht mehr gebraucht. Ich bin arbeitslos geworden. Andere haben mich dazu gedrängt. 8 % 7 % 43 % 40 % 35 % 33 % 28 % 25 % 22 % 17 % 13 % 63 % 63 % 61 % 57 % 73 % 71 % Häufigkeit von Gründen für den erfolgten Frühausstieg bei Personen in vorzeitiger Altersrente (fast alle ca. 63 Jahre alt. lidA-Welle 4, 2022/23, n=370, Hasselhorn und Ebener 2023). Zahlen der Studie »lidA — leben in der Arbeit« zeigen, dass nur etwa 15 Prozent von ihnen gern bis zum gesetzlich vorgesehenen Renteneintrittsalter erwerbstätig wären. Genau zwei Drittel wünschen dagegen, bereits vor dem 65. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben auszusteigen (Hasselhorn und Ebener 2023). Die dominierenden Gründe für den Wunsch nach dem Frühausstieg sind Selbstbestimmung im Leben und das Gefühl eines Anspruches auf die frühe Rente. Auch belastende Arbeitsfaktoren und schlechte Gesundheit spielen eine Rolle; dies gilt jedoch lediglich für weniger als die Hälfte aller Befragten (Hasselhorn und Ebener 2023). Die Gründe für den Vollzug des frühen Erwerbsaustritts liegen meist im Privatleben der Befragten, nur wenige haben unmittelbar mit deren Arbeit zu tun (siehe Abb. »Häufigkeit der Gründe …«, Hasselhorn und Ebener 2023). Wieder spielt die Gesundheit eine Rolle, aber nicht die wichtigste. Hinzu kommt, dass viele ältere Beschäftigte es sich finanziell leisten können, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen; bei den 63-Jährigen sind dies 55 Prozent (eigene noch unveröffentlichte Umfrage-Ergebnisse). Eine Schlussfolgerung aus den genannten Beobachtungen ist, dass es Betrieben, die ihre älteren Mitarbeitenden länger in Beschäftigung 44
WERKWANDEL 03/2024 Wissenschaft direkt Wie ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt? Wie ist meine finanzielle Situation? Wie sind meine Arbeitsbedingungen? Wie lange werde ich wohl arbeiten? Was sagen Familie und Freunde? Bin ich in der Lage zu arbeiten? Wie lange muss ich laut Gesetz noch arbeiten? Wie gestalte ich meinen Alltag und meine Freizeit? Wie steht es um meine Gesundheit? Vielfalt der Aspekte, die ältere Beschäftigte bedenken, wenn sie sich Überlegungen zum Zeitpunkt ihres Ruhestands machen. Foto: © contrastwerkstatt/stock.adobe.com halten möchten, gelingen muss, dass diese das auch wollen. Ein Ansatzpunkt wäre dabei, deren Arbeit für sie attraktiver zu machen. »Sprachlosigkeit« Im höheren Erwerbsalter fangen nahezu alle Beschäftigten an, darüber nachzudenken, wie lange sie noch erwerbstätig sein wollen und planen, dies zu sein. So manche sehen ihre letzten Arbeitsjahre dabei eher als einen Übergang (in die Rente) und nicht etwa als erfüllende Lebensjahre an. Bei ihren Überlegungen spielen stets verschiedene Aspekte eine Rolle, wie in der Abbildung »Vielfalt der Aspekte …« skizziert, und wieder ist die Arbeit hier nur ein Einflussfaktor von vielen. Unsere Erfahrung aus Befragungen und Seminaren ist, dass ältere Beschäftigte solche Überlegungen vorwiegend mit sich selbst ausmachen und sich dazu am ehesten im persönlichen, oft familiären, Umfeld austauschen. Mit ihrem Arbeitgeber teilen sie sie oft erst dann, wenn sie sich — gegebenenfalls nach Abklärung ihrer Rentenanwartschaften — für einen Ausstiegstermin entschieden haben. Doch dann ist es häufig zu spät, sie länger im Unternehmen zu halten. Wir bezeichnen den Umstand, dass Beschäftigte die Frage des Erwerbsausstiegs in aller Regel mit sich selbst ausmachen und die betrieblich Verantwortlichen nicht frühzeitig einbeziehen, als »Sprachlosigkeit«. Der Übergang in den Ruhestand ist ein Prozess Der Übergang in den Ruhestand ist kein Schritt von heute auf morgen, sondern ein meist langer Prozess, der mit ersten Überlegungen, Abwägungen und Abklärungen beginnt, schließlich zum Fällen einer Entscheidung führt, worauf im Idealfall Planung und Umsetzung erfolgen. Dieser Prozess dauert in aller Regel Jahre. Ergebnisse der lidA-Studie legen nahe, dass 11 Prozent aller Beschäftigten bereits im Alter von 51 Jahren mindestens mehrfach monatlich an den Erwerbsausstieg denken (siehe dritte Abbildung dieses Beitrages). Dabei werden Beschäftigte über die Zeit hinweg sehr deutlich von Einstellungen in ihrem persönlichen Umfeld beeinflusst. »Mitarbeitergespräche über die letzten Arbeitsjahre« Wenn es nun für zunehmend viele Betriebe gilt, ihre älteren Beschäftigten länger zu halten, dann sollte ihnen daran liegen, die bereits skizzierte Sprachlosigkeit zu überwinden und in einen konstruktiven Diskurs über die letzte Arbeitsphase zu kommen. Hierzu schlagen wir regelmäßige explizite »Mitarbeitergespräche über die letzten Arbeitsjahre« vor, die beispielsweise ab dem Alter von 55 Jahren zu führen sind. Dieser Austausch kann als eigenständiges Gespräch oder als Be- 45
Laden...
Laden...
© 2021 ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V.