WERKWANDEL 03/2024 Zukunftsgespräch Kopf behalten kann. Ich brauche heute digitale Entscheidungsunterstützungssysteme, um Daten zusammenzuführen und auszuwerten, um am Ende ganz nah daran Entscheidungen treffen zu können. Dafür muss ich in der Lage sein, diese sehr unterschiedlichen Systeme miteinander zu verbinden. Das haben unsere IT-Experten in Essen mit einer Interoperabilitätsplattform vorbildlich gelöst! Wir verfügen hier in Essen über den größten Patientendatensee Europas im FHIR-Standard (Fast Healthcare Interoperability Resources). Wer bei uns einen Patienten betreut, ist für dessen Daten auch abteilungsübergreifend freigeschaltet. Im aktuellen weltweiten Newsweek-Ranking der Smart Hospitals belegen wir Rang 16, in Deutschland Rang 2 nach der Berliner Charité. Leider endet aber die Interoperabilität an der Grenze unseres Klinik-Campus. Was wünschen Sie sich hier? Barrieren und Medienbrüche für alle, die einen Patienten verantwortlich behandeln, müssen fallen. Die Realität heute: Menschen kommen von niedergelassenen Ärzten zu uns ins Krankenhaus und kehren hinterher zu ihren Hausärzten und Ärztinnen zurück. Einen Datentransfer in die Fläche — zwischen Praxis und Klinik und umgekehrt — gibt es nicht. Im Sinne einer ressourcenschonenden und besseren Behandlung der Patienten wäre es sehr wünschenswert, wenn wir auch auf Daten der niedergelassenen Ärzte zugreifen könnten und von diesen auch Daten empfangen. Das vermeidet auch unnötige Doppeluntersuchungen. Das ist wirtschaftlicher und ressourcenschonender. Auch maschinelle Intelligenz ist für ihr Training auf eine möglichst breite Datenbasis angewiesen. Dafür brauchen wir international standardisiert codierte — also genormte — Daten, die dem Patienten oder der Patientin eindeutig zuzuordnen und interoperabel sind. Damit können wir auch Vergleiche zu anderen Fällen und daraus gewonnenen Erkenntnissen ziehen, um herauszufinden, welche Behandlungen bei anderen erfolgreich waren und welche anderen Erkrankungen bei anderen mit dem vorliegenden Krankheitsbild verknüpft waren. Auch das kann zu einer besseren Behandlung führen. Wir müssen weg vom Patientenbrief des vergangenen Jahrhunderts und hin zu einem nahtlosen (medienbruchfreien, seamless) Datenaustausch zwischen allen verantwortlichen Behandelnden. Das diskutiere ich beispielsweise im Digitalisierungsausschuss der Bundesärztekammer, aber auch im Interop Council. Menschen, die sich für einen Beruf im Gesundheitswesen entschieden haben, sind in der Regel keine geborenen ITler. Wie nehmen Sie diese Menschen in die digitale Transformation mit? Dadurch, dass unsere Systeme im Krankenhaus-Alltag funktionieren und einen Zugewinn an Zeit bringen. Ein Beispiel sind die Dokumentationspflichten, die wir im Krankenhaus bei jedem Schritt zu leisten haben. Das ist bei uns elektronisch an verschiedenen Stellen leistbar. Am »Point of Care« haben Pflegende Zugriff auf elektronische Patientenakten und können hier alle erforderlichen Informationen eingeben. All das steht in Echtzeit auch allen anderen zur Verfügung, die es angeht. Die Pflegenden müssen das nicht erst auf Notizblöcken festhalten und den Inhalt der Zettel später mühsam in Stations-Computern eintragen. Wenn unsere Technik ihnen das abnimmt und ihnen so mehr Spielräume lässt, mit Menschen zu arbeiten, motiviert sie das zum Mitmachen. Sie erleben einen persönlichen Nutzwert. Eröffnung des SmartHospital.NRW-Showrooms in Essen im April 2023: NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur mit Professor Jochen A. Werner und Dr. Anke Diehl (links vorn) sowie weiteren Beteiligten | Foto: Universitätsmedizin Essen 52
WERKWANDEL 03/2024 Zukunftsgespräch Wie nehmen Sie Patienten, die »Passagiere« Ihrer digitalen Flotte, in KI & Digitalisierung mit? Und wie gehen Sie mit Sorgen um die eigenen Gesundheitsdaten um? Patientinnen und Patienten sind in erster Linie daran interessiert, mit hoher diagnostischer Treffsicherheit möglichst gut behandelt zu werden. Innerhalb unserer Krankenhausmauern dürfen wir die Patientendaten dafür nutzen — das unterschreiben Patientinnen und Patienten im Behandlungsvertrag. So muss beispielsweise die Kardiologie Labordaten nutzen können. Für die Zukunft brauchen wir einen solchen Datenaustausch auch auf nationaler Ebene. Dies muss bei optimalem Datenschutz sektorübergreifend — also beispielsweise zwischen dem Klinik-Sektor und betreuenden niedergelassenen Ärzten — auf der sicheren Telematikinfrastruktur-Ebene geschehen. Bei Tumorerkrankungen gibt es zum Beispiel eine übergreifende Datenanalyse im nationalen Krebsregister. Ich erlebe viel Zustimmung bei Krebspatienten für dieses System, weil sie wissen, dass die hier gesammelten Daten die Krebsbehandlung insgesamt, aber auch die Heilungschancen jedes Einzelnen voranbringen können. Ist für Sie irgendwann vorstellbar, dass KI und Computer Behandlungsentscheidungen treffen? Die Verantwortung wird auch in Zukunft beim ärztlichen Dienst bleiben. Mehr Daten und eine fortgeschrittenere KI werden aber bessere Grundlagen für noch fundiertere therapeutische Entscheidungsgrundlagen Interviewpartnerin Stabsstelle Digitale Transformation Universitätsklinikum Essen (AöR) Dr. Anke Diehl ist Humanmedizinerin mit zusätzlichem Master-Abschluss für das Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Sie verfügt über klinische Erfahrungen in den Fächern Neurologie, Neuroradiologie, Psychiatrie und Radiologie. 2018: Digital Change Managerin der Universitätsmedizin Essen. Seit 2021: Leitung der Stabsstelle Digitale Transformation in Essen: Als Konsortialführerin von »SmartHospital.NRW« entwickelt sie mit anderen Universitäten und Facheinrichtungen Anwendungsfelder für KI zur Gestaltung des Krankenhauses von morgen. German Medical Award in der Kategorie »Medical Woman of the Year Award 2021 — Medizinerin des Jahres 2021«. Seit 2021 vertritt sie die Gruppe der Health-IT-Nutzer im siebenköpfigen Expertengremium Interop Council und ist seit 2022 Mitglied im Ausschuss für Digitalisierung der Bundesärztekammer. schaffen. Ich verstehe, dass hier manche verunsichert sind, was da im Hintergrund passiert. Wir brauchen explainable AI (erklärbare Künstliche Intelligenz). Menschen müssen im Grundsatz verstehen, wie Algorithmen funktionieren. Das ist auch eine Kommunikationsaufgabe für den IT-Sektor. Wo wollen Sie mit »Smart Hospital« in fünf oder zehn Jahren stehen? Das ist stark von externen Faktoren abhängig. Ein Meilenstein steht für Anfang 2025 an: die elektronische Patientenakte (ePA). Patienten und Patientinnen werden den Umgang mit ihren Daten sowie deren Nutzung über ihr Smartphone steuern können. Das wird ein großer Schritt auf dem Weg zur sektorübergreifenden Interoperabilität sein. Wir werden dadurch in fünf Jahren sehr viel weiter sein als heute — auch bei der internationalen Standardisierung von Gesundheitsdaten. Die Menschen werden diesen Weg akzeptieren, wenn sie seinen Nutzwert erkennen — bei einem neuen Arzt einfach ihre ePA durch einen einfachen Klick übergeben — und alle relevanten Informationen liegen dann dort vor. Wenn dieses System sicher und komfortabel funktioniert, werden Patientinnen und Patienten es akzeptieren. Autor Mehr Daten und eine fortgeschrittenere KI werden bessere Grundlagen für noch fundiertere therapeutische Entscheidungen schaffen. Anke Diehl +49 179 2043542 Carsten Seim Redakteur avaris | konzept Carsten Seim betreut die Redaktion des Magazins Werkwandel im Auftrag des ifaa — Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. 53
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