WERKWANDEL 03/2024 Arbeitsrecht krankten Arbeitnehmer »geholfen« werden. Es gilt der sogenannte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der unter anderem mit dem sogenannten betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) seinen Niederschlag im Gesetz gefunden hat. Kurz gesagt: Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, so ist im Rahmen eines BEM-Gesprächs zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden sowie mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Es handelt sich hierbei nach der Rechtsprechung um einen — gesetzlich nicht im Einzelnen ausgestalteten — offenen Suchprozess. Arbeitsgericht Köln — hier werden auch Fälle krankheitsbedingter Kündigung verhandelt | Foto: Arbeitsgericht Köln Wie so häufig hat die Rechtsprechung sich dieser Regelung mit großer Akribie angenommen und unter anderem für die Formulierung eines das BEM einleitenden BEM-Einladungsschreibens sowie für die Durchführung des BEM selbst Voraussetzungen formuliert, die der Praxis mitunter Rätsel aufgeben. Nach der Rechtsprechung ist die richtige Durchführung des BEM zwar keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung. Tatsächlich ist dies aber dann der Fall, wenn eine Prüfung im arbeitsgerichtlichen Prozess ergibt, dass die (ordnungsgemäße) Durchführung eines BEM im Sinne des Arbeitnehmers ein positives Ergebnis erbracht hätte (zum Beispiel leidensgerechter Arbeitsplatz). Es empfiehlt sich daher grundsätzlich die Durchführung des BEM — und zwar auch dann, wenn der Arbeitnehmer im Anschluss an die Durchführung des BEM erneut sechs Wochen erkrankt. Etwas anderes gilt allenfalls, wenn — was allerdings schwierig einzuschätzen ist — ein BEM ganz offensichtlich von vornherein »nutzlos« wäre (wenn angesichts der Erkrankung beispielsweise in keinem Fall ein »leidensgerechter Arbeitsplatz« oder irgendeine sonstige Hilfe für den Arbeitnehmer gefunden werden kann) oder aber — was häufig zu beobachten ist — der Arbeitnehmer nach entsprechender Aufforderung (zumindest zwei ordnungsgemäße Einladungsschreiben) nicht zur Teilnahme am BEM bereit ist. Ist nach Prüfung aller in Betracht kommenden Möglichkeiten eine krankheitsbedingte Kündigung unvermeidbar, so ist zunächst zu prüfen, ob der Arbeitnehmer dem sogenannten besonderen Kündigungsschutz unterfällt und mithin beispielsweise vor Ausspruch der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt werden muss. Genießt der Arbeitnehmer den allgemeinen Kündigungsschutz (Schwellenwert: mehr als zehn Arbeitnehmer; Wartezeit: mehr als sechsmonatige Beschäftigungszeit), so muss die Kündigung sozialgerechtfertigt sein (verhaltens-, personen- oder betriebsbedingter Kündigungsgrund). Die krankheitsbedingte Kündigung ist der — gegebenenfalls wichtigste — Unterfall der sogenannten personenbedingten Kündigung; diese knüpft anders als die verhaltensbedingte Kündigung (schuldhaftes, willensgesteuertes Verhalten) an einen nicht der Willenssteuerung unterfallenden Eignungsmangel (Erkrankung, altersbedingter Leistungsabfall etc.) an. Für die Überprüfung der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung gilt ein sogenannter dreistufiger Prüfungsaufbau; dieser kann hier nur stichwortartig skizziert werden — und zwar wie folgt: 64
WERKWANDEL 03/2024 Arbeitsrecht 1. Prüfungsstufe: Negative Zukunftsprognose. Das heißt: Ausgehend von der zu beurteilenden Erkrankung und gegebenenfalls unter Einbeziehung eines Referenzzeitraums (zurückliegende Erkrankungen in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren vor Ausspruch der Kündigung) bedarf es einer zukunftsgerichteten Prognose, dass der Arbeitnehmer auch künftig seine arbeitsvertraglichen Pflichten aufgrund Erkrankung nicht erfüllen kann. 2. Prüfungsstufe: Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Das heißt: Die bisherigen und nach der Prognose zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers müssen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Sie können durch Störungen im Betriebsablauf oder wirtschaftliche Belastungen hervorgerufen werden. 3. Prüfungsstufe: Interessenabwägung. Das heißt: Es ist zu prüfen, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen. Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalles einzubeziehen (beispielsweise ist ein Arbeitsunfall im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen). Dieses dreistufige Prüfungsschema gilt — mit gewissen Nuancierungen — für alle »Spielarten« der krankheitsbedingten Kündigung — das heißt: für die Kündigung wegen: ›› häufiger Kurzerkrankungen, ›› Langzeiterkrankungen, › › › › dauernder Arbeitsunfähigkeit. › krankheitsbedingter Leistungsminderungen. › völlige Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Literatur Schiefer B, Heitmann M: Krankheit im Arbeitsverhältnis/ Alkohol/Schwerbehinderung/BEM/Low-Performance/ Pflege naher Angehöriger. In: Düsseldorfer Schriftenreihe, 2. Aufl., www.duesseldorfer-schriftenreihe.de, ders. in vom Stein J, Rothe I, Schlegel R: Gesundheitsmanagement und Krankheit im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl., Kap. 5, § 30; ders. PuR 2012, 203ff. und 228ff. die Fehlzeiten in der Vergangenheit keine negative Zukunftsprognose zulassen (zum Beispiel ausgeheilte Erkrankung etc.). Es liegt auf der Hand, dass die Beurteilung der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung daher im Einzelfall äußerst schwierig und der Prozessausgang gegebenenfalls schwierig zu prognostizieren ist. Keiner besonderen Erwähnung bedarf es, dass neben dem besonderen und allgemeinen Kündigungsschutz natürlich auch die allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Kündigung zu beachten sind (zum Beispiel Schriftform der Kündigung; Betriebsratsanhörung etc.). Alles in allem ergibt sich eine schwierige »Gemengelage«, die allenfalls dann (einigermaßen) bewältigt werden kann, wenn fortlaufend die aktuelle Rechtsprechung berücksichtigt wird. Ungeachtet dessen sollten alle betrieblichen Präventionsmaßnahmen ergriffen werden, die dazu beitragen können, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu erhalten oder aber einem erkrankten Arbeitnehmer (zum Beispiel leidensgerechter Arbeitsplatz) helfen können (sogenanntes Gesundheitsmanagement im Arbeitsverhältnis). Hinweis Über besonders praxisrelevante arbeitsrechtliche Entscheidungen informiert fortlaufend aktuell die Praktiker- Zeitschrift »Personalpraxis und Recht« (PuR) — zu finden unter www.ra-schiefer.de. Die besondere Schwierigkeit besteht aus Arbeitgebersicht in der Regel darin, dass der Arbeitgeber die Krankheit selbst nicht kennt und daher beispielsweise bei einer Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen lediglich darauf verweisen kann — aber auch muss –, dass der Arbeitnehmer in einem zurückliegenden Referenzzeitraum (zwei bis drei Jahre) in einem erheblichen Umfang arbeitsunfähig erkrankt war. Trägt der Arbeitgeber dies im Prozess vor, so genügt er zunächst seiner Darlegungslast. Der Arbeitnehmer selbst muss sodann — gegebenenfalls durch Entbindung seiner Ärzte von der Schweigepflicht — nachweisen, dass Autor +49 211 4573267 Prof. Dr. jur. Bernd Schiefer Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht Schiefer Rechtsanwälte Düsseldorf Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius, Köln Langjährig berät und vertritt Bernd Schiefer, Professor an der Fresenius-Hochschule, Unternehmen als Rechtsanwalt arbeitsrechtlich. 65
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