WERKWANDEL 02/2023 Arbeitswelt vor Ort € Foto: © Igor Stevanovic, nikkytok/stock.adobe.com Vertrauen bei der Arbeitszeit ist gut — ist mehr Kontrolle wirklich besser? Personalwirtschaftliches ifaa-Gutachten zum Wert flexibler Arbeitszeitmodelle und den Gefahren von Einschränkungen Dieser Artikel stellt zentrale Inhalte eines Gutachtens des ifaa im Nachgang des sogenannten Stechuhr-Urteils des Europäischen Gerichtshofs, EuGH, vom 14. Mai 2019 — C-55/18 vor. Es wurde erstellt im Auftrag des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Der EuGH hat in seinem Urteil (Az. C-55/18) im Jahr 2019 festgestellt, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Nach der Entscheidung sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Arbeitgebern die Bereitstellung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems der Arbeitszeiterfassung aufzuerlegen, mit dem die geleistete Arbeitszeit sämtlicher Arbeitnehmer gemessen werden kann. In Deutschland rechnen Experten damit, dass das im Jahr 2022 folgende Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichtes, BAG, (1ABR 22/21) Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben kann, weil damit mehr Kontrolle nötig sei. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Das Ziel des ifaa-Gutachtens ist eine personalwirtschaftliche Betrachtung, welchen gesamtgesellschaftlichen, aber auch wirtschaftlichen beziehungsweise unternehmerischen Wert zeit- und ortsflexible Arbeitsmodelle vor dem Hintergrund 22
WERKWANDEL 02/2023 Arbeitswelt vor Ort der Diskussionen um das sogenannte »Stechuhrurteil« haben. Ein Schwerpunkt des Gutachtens liegt in der Beantwortung der Frage, welche (negativen) Folgen eine starre Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit für flexible Arbeitszeitmodelle hätte beziehungsweise ob flexible Arbeitszeitmodelle einer starren Erfassung der Arbeitszeit zugänglich sind. Die Erkenntnisse und Ergebnisse des ifaa-Gutachtens im Detail: Keine Notwendigkeit zusätzlicher Zeiterfassung Zahlreiche Studien belegen, dass in Deutschland die Arbeitszeiten bereits jetzt schon erfasst und aufgezeichnet werden, wo es auch notwendig ist. Die Arbeitszeiten werden auf verschiedenen Wegen und durch unterschiedliche Systeme erfasst. Deutschland bleibt im Vergleich zu den anderen Ländern am stärksten den klassischen Zeiterfassungssystemen verbunden. Eine generelle und »neue« Nachweisnotwendigkeit für alle Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen ist daraus nicht abzuleiten. Das gilt auch für die Pflicht zur digitalen Erfassung. Gesetzliche Bestrebungen gefährden M+E-Konsens Durch eine gesetzliche Veränderung und deren Auswirkung auf bestehende betriebliche Regelungen der Arbeitszeitflexibilität wird in das im Jahr 1984 in der Metall- und Elektroindustrie vereinbarte Verhältnis zwischen Verkürzung und Flexibilisierung von Arbeitszeiten eingegriffen. Durch Forderungen nach einer umfassenden Arbeitszeiterfassung, die aktuell insbesondere durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, aufgestellt werden und auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gefunden haben, wird die ausgewogene Verhältnismäßigkeit, die beide Tarifparteien damals ausgehandelt und über Jahre erfolgreich praktiziert haben, in ein deutliches Missverhältnis zum Nachteil der Flexibilität verkehrt. Die Folgen sind aktuell weder ausreichend diskutiert noch absehbar. Flexibilität für Betriebe stärken, nicht schwächen Die Erfahrungen der letzten Jahre, die auf betrieblicher und volkswirtschaftlicher Ebene gemacht wurden, zeigen, dass die im Jahr 1984 vereinbarte Flexibilität für die Metall- und Elektroindustrie ein zunehmend unverzichtbarer Faktor zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen (Globalisierung, Digitalisierung, demografische Entwicklung und Arbeitgeberattraktivität) ist. Diese ist ein wesentlicher Garant dafür, dass bundesdeutsche Unternehmen auf die vielfältigen Herausforderungen reagieren können. Diese Flexibilität ist eine Stärke. Sie sollte nicht durch Gesetzentwürfe geschwächt werden. Flexibilität für Beschäftigte stärken, nicht schwächen Flexibilität ist auch von Beschäftigten gewünscht beziehungsweise gefordert und gründet auf der hohen Wertschätzung der eigenverfügbaren Zeit. Die Beschäftigten streben immer stärker nach einem selbstbestimmten Leben und Selbstverwirklichung und möchten selbst entscheiden, wie und wo sie leben und arbeiten. Neben dieser Flexibilität werden die Freiheit zur Arbeitsgestaltung oder eine bessere Work-Life-Balance von Beschäftigten Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall stellte im Februar 2023 drei wissenschaftliche Gutachten zur Debatte um die Arbeitszeiterfassung vor. Präsident Dr. Stefan Wolf mit ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser (rechts) sowie den Professoren Clemens Höpfner (Universität Köln) und Gregor Thüsing (Universität Bonn, von links). | Foto: Gesamtmetall hoch angesehen. Der Wunsch nach Flexibilität bei den Beschäftigten darf durch rechtliche Rahmenbedingungen weder gefährdet noch eingeschränkt werden. Eine umfassende und lückenlose Zeiterfassung passt nicht zum Selbstverständnis von Beschäftigten, die nach einem selbstbestimmten Leben und Selbstverwirklichung streben und kann dafür sorgen, dass die Arbeitgeberattraktivität stark darunter leidet. Vorgaben zur Zeiterfassung gehen an der betrieblichen Realität vorbei Die Vorgabe einer ausschließlich digitalen Zeiterfassung ist vor dem Hintergrund der sehr heterogenen Landschaft der Branchen und Unternehmensgrößen sowie der Wünsche und Bedarfe der Beschäftigten im Hinblick auf die Umsetzung und Anforderung an die Unternehmen nicht umsetz- 23
Sicherheit hat Methode Die verhalte
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